Rezension: „In der Wildnis bin ich frei. Mein Leben in den Wäldern Neuseelands“

In einem Restaurant in Süd-Indien lernt die 24-jährige Miriam den 30 Jahre älteren Peter kennen. Nachdem sie einige Zeit gemeinsam durch Asien gereist sind, folgt die Niederländerin dem Neuseeländer in sein Heimatland. Dort arbeitet sie zunächst als Sportlehrerin und beide führen ein sesshaftes Leben – bis die Abenteurer beschließen, in die neuseeländischen Berge zu gehen und dort ein Jahr lang in der Wildnis zu leben. Am Ende des Buches sind es insgesamt sechs Jahre, die die beiden fernab der Zivilisation an verschiedenen Orten auf der Nord- und Südinsel verbracht haben, gekrönt von einer Wanderung auf dem Fernwanderweg Te Araroa, der sie von Cape Reinga quers Land bis nach Bluff führt. 

Miriam Lancewood erzählt mit großer Ehrlichkeit und einer guten Prise Humor, wie die beiden sich langsam an ein Leben als Aussteiger herantasten. Sie beschreibt ihre Ängste ebenso eindrücklich wie die Gefahren, denen sie fernab der Zivilisation begegnen. Besonders stark jedoch wird ihre Erzählung immer dann, wenn sie die neuseeländische Natur beschreibt: Ihre Verbundenheit mit der Natur ist so deutlich zu spüren als würde man tatsächlich an ihrer Seite durch die einsamen Täler streifen oder auf Ziegenpfaden Berggipfel überwinden.

Für das (zunächst) geplante erste Jahr wollen sich die beiden jeweils mit Vorräten für drei Monate ein Basislager in der Wildnis suchen, von dem aus sie die Umgebung erkunden und auf die Jagd gehen wollen. Schon der Versuch, die allererste Einkaufsliste zu schreiben, ist ein spannendes Unterfangen. „Wie viele Tassen Tee trinkst Du am Tag, Lieblings?“, fragt Peter seine Frau, um anhand dessen den Bedarf hochzurechnen. Kniffliger wird es bei Grundnahrungsmitteln wie Reis, Linsen, Öl, Zucker, Mehl. Wie viel sie davon wohl brauchen werden, hängt unmittelbar damit zusammen, wie viel sie jagen und sammeln können – und das genau abzuschätzen, ist schwierig. Allerdings können die beiden nicht auf gut Glück mehr Lebensmittel einzupacken, denn sie müssen ab dem Ende des mit einem 4WD befahrbaren Weges (wohin gute Freunde sie jeweils bringen) jeden Sack und jedes Kilo auf dem Rücken ins Basislager tragen. Teilweise sind das zwei Tagesmärsche – in eine Richtung.

Miriam-Lancewood (c) Lottie Hedley Eindrücklich und schonungslos ehrlich beschreibt Miriam auch die ersten Wochen in der Wildnis: Das große Abenteuer hat endlich begonnen und sie spürt vor allem: Langeweile und innere Unruhe. Unbefriedigend verlaufen auch ihre ersten Jagdversuche, für die sie sich extra Pfeil und Bogen gekauft hat: Es gelingt ihr nicht einmal, ein Tier aufzuspüren, auf das sie zielen könnte. „Auf einer grasbewachsenen Lichtung entdeckte ich einen großen Felsbrocken. Man hatte mir erzählt, dass Ziegen offene Flächen mögen, also versteckte ich mich dahinter. Ich legte einen Pfeil auf und bereitete mich auf den Schuss vor. Dann hob ich langsam den Kopf und rechnete beinahe damit, eine Ziege in meinem Lieblingsabstand von zwanzig Metern vor mir stehen zu sehen, die nur auf mich wartete – aber nein. Nichts.“  Statt dessen fühlt sie sich so ganz alleine in der Natur auf einmal unwohl: „Ich starrte in den Wald zu meiner Linken, aber ich wagte nicht, mich weiter vom Pfad zu entfernen aus Furcht, mich zu verlaufen.“

Auch für Peter, der sehr viel mehr Erfahrung darin hat, sich in Neuseelands Backcountry zurecht zu finden und zu jagen, ist es eine neue und teils extreme Erfahrung, länger als nur ein paar Tage in der Wildnis zu verbringen. Stück für Stück lernen die beiden Abenteurer dazu. So verbringen die beiden beispielsweise mehrere Winterwochen in einer Berghütte, die so kalt ist, dass die Temperaturen darin nachts trotz Kaminfeuers deutlich unter Null fallen. Erst als zwei Wanderer vorbei kommen, es zu eng für alle vier in der Hütte wird und die beiden in ihrem Zelt schlafen, stellen sie fest, dass es darin viel wärmer ist. Ab sofort schlafen sie immer im Zelt und suchen nur bei starkem und längerem Regen in einer Hütte Zuflucht.

Diese seltenen Begegnungen mit anderen Menschen in der Wildnis bedeuten für Miriam und Peter immer großes Glück: Sie bringen Neuigkeiten aus der Welt und die Möglichkeit, sich mit anderen Menschen als dem einen, stets gleichen Gesprächspartner zu unterhalten. Aus den meisten dieser Begegnungen entwickeln sich weitere Kontakte bis hin zu Freundschaften. Einem Mann helfen Miriam und Peter, eine Hütte auf einem Berggipfel zu erbauen, in der sie dann einige Monate leben dürfen. Im Tausch für ihre Arbeitskraft fliegt Paul ihre Vorräte mit dem Heli auf den Berg. Oder Daniel, der ihnen sein Haus an der Westküste zur Verfügung stellt, das er mit eigenen Händen für seine Familie erbaut hat – um nach einigen Jahren einzusehen, dass das erträumte Leben in der Wildnis mit Kindern nicht funktioniert – alleine wegen des zweistündigen Schulwegs und der Entfernung zu allen Freunden. „Wenn ihr hier wohnt, kann ich mein Abenteuerleben sozusagen durch euch weiterführen.“

Als das geplante erste Jahr vorüber ist, fühlen die beiden sich so wohl in der Wildnis, dass sie beschließen, dieses Leben fortzusetzen. Sie haben ihren Rhythmus gefunden, der von den Jahreszeiten und vom Sonnenauf- und untergang bestimmt wird. Und obwohl es auch Situationen gibt, in denen sich die beiden streiten – etwa nach wochenlangem Regen oder nach besonderer körperlicher Anstrengung – scheinen sich die beiden Abenteurer auch nach Jahren in der Abgeschiedenheit noch immer selbst genug zu sein.

Miriam und Peter Lancewood im Norden der Nordinsel, am Beginn des Te Araroa-Fernwanderwegs
Miriam und Peter Lancewood im Norden der Nordinsel, zu Beginn des Te Araroa-Fernwanderwegs

Vor allem die genauen Beobachtungen und Beschreibungen der neuseeländischen Natur sind es, die dieses Buch lesenswert machen. Selbst wenn man Neuseeland nur als Tourist erlebt und dort vielleicht keine ausgedehnten Mehrtageswanderungen im Hinterland unternommen hat, wird man einiges wiedererkennen – sei es die Beschreibung einstiger Goldgräberhütten in Central Otago oder Cape Reinga und der Ninety Mile Beach an der Spitze der Nordinsel, wo der Fernwanderweg Te Araroa beginnt. Besonders gut hat mir der Abschnitt gefallen, als die beiden einige Zeit im Norden des Abel Tasman Nationalparks verbringen. Dort lernen sie eine uralte Dame kennen, sozusagen ihre Nachbarin, die als letzte der Familie in einem Farmhaus wohnt, in dem die Zeit irgendwann Anfang des 20. Jahrhunderts stehen geblieben zu sein scheint.

Gestört hat mich, dass Miriam Lancewood ihre Lebensweise zunehmend auf einen Sockel hebt. So betont sie immer wieder die besonderen Fähigkeiten, die sie erworben hat – vom Jagen über ihre Genügsamkeit, mit dem Notwendigsten in der Natur zu leben, bis hin zur schieren körperlichen Kraft, die sie erworben hat (und die ihr deutlich älterer Mann, der sonst immer alles besser kann und weiß als sie, nicht mehr hat – was sie mehrfach erwähnt). Ja, ihre Lebensweise ist außergewöhnlich. Aber zum einen wird ihr Leben in der Wildnis immer wieder durch Abstecher in die Zivilisation unterbrochen: alle drei Monate, um die Vorräte aufzufüllen, sowie hin und wieder, um durch Musizieren vor einem Supermarkt etwas Geld zu verdienen. Und was noch viel entscheidender ist: Was wäre denn, wenn auf einmal ganz viele Menschen Lust bekämen, genau wie Miriam und Peter in Neuseelands Wildnis zu leben? Ab wann würde es im noch einsamen Hinterland zu voll? Wann wären alle wilden Ziegen, Schweine und Hasen gejagt?

In einer Szene fast am Ende des Buches, als Miriam und Peter auf dem Te Araroa-Fernwanderweg den 90-Mile-Beach entlang laufen, wird diese Selbstbeweihräucherung besonders deutlich. Miriam schreibt: „Zu bestimmten Tageszeiten fuhren klimatisierte Busse an uns vorbei. Junge Leute mit Kopfhörern winkten uns hinter den getönten Scheiben begeistert zu. Ich streckte grüßend meine Holzstöcke in die Luft, ohne zu verstehen, was so toll daran sein sollte, in einem Bus am Strand entlang zu fahren. Zweifelsohne stellten sich die Passagiere umgekehrt die Frage, was so toll daran sein sollte, an diesem endlosen Strand entlang zu wandern.“ Nicht den Touristen fehlt hier das Verständnis, sondern der Autorin selbst.

Mein Fazit: Neuseelandfans bietet das Buch eine ungewöhnliche Perspektive auf das Land. Vor allem wer die Natur liebt, wird viele Passagen im Buch mit Genuss lesen.

Miriam Lancewood: „In der Wildnis bin ich frei. Mein Leben in den Wäldern Neuseelands“. Übersetzt von Kristina Lake-Zapp. Originaltitel: „Woman in the Wilderness“. 400 Seiten. Klappbroschur. Erschienen bei Knaur HC. ISBN-10: 3426214385, ISBN-13: 978-3426214381. 16,99 Euro. 

Hinweis [WERBUNG]: Das Buch für diese Rezension wurde uns vom Verlag kostenlos zur Verfügung gestellt. Dies hat unsere Rezension nicht beeinflusst.

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