Die Jäger-Sommer-Tour mit Bulli (3): steife Brise am Deich


Wer in Deutschland mal so richtig Kontrastprogramm erleben will, muss einfach aus dem Bayrischen Wald hoch an die Küste fahren. Eben rollte unser Bulli noch durch grüne Täler und wir campten neben dichten Nadelwäldern, jetzt reichen die Wiesen plötzlich bis zum Horizont und die Kühe darauf sind auch nicht mehr hellbraun, sondern schwarz-bunt gefleckt. Überhaupt, der Horizont: Als 360-Grad-Panorama ist er allgegenwärtig, wird höchstens durch eine Baumreihe oder ein backsteinrotes Hutzelhaus unterbrochen, und der Himmel darüber ist auf einmal weit, so weit. In diesen Tagen – wir haben Ende Juli! – gleicht er leider meist der grau-weißen Suppe in einem Waschzuber, die dicht über unseren Köpfen schwimmt. Es stürmt und regnet, als wären wir vom Hochsommer in den Herbst gefahren. Aber die steife Brise reißt den Himmel auch immer wieder auf und dann können wir den Wolken dabei zusehen, wie sie Line Dancern gleich über eine gigantische, spektakulär ausgeleuchtete Bühne tanzen.

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Ich mag es, zu jeder Tageszeit mit einem „Moin“ begrüßt zu werden, das in meinen Ohren immer fröhlich klingt, und überhaupt weckt der Sing-Sang, in dem hier an der Küste gesprochen wird, Kindheitserinnerungen und färbt sofort wieder meine eigene Sprachmelodie. Ich mag es auch, bei Wind und Wetter am Strand spazieren zu gehen. Eigentlich. Momentan muss man sich bei jedem Schritt in den Wind legen, als ob es um ein Tauziehen geht, während waagerecht fliegende Regentropfenraketen in die Wangen zwicken. Die Einheimischen schütteln über das ungewöhnliche Wetter nur stoisch den Kopf und erzählen uns vom Jugendzeltlager der Freiwilligen Feuerwehr, das gerade komplett abgesoffen sei.

Kindheitserinnerung: Krabben pulen

Selbst die Fischer fahren bei diesem Wind nicht raus.

Seit drei Tagen lägen sie schon hier, erzählt mir die amtierende Krabbenpulmeisterin, als wir am Wremer Kutterhafen nach Granat (wie die kleinen Nordseegarnelen hier oben genannt werden) Ausschau halten. Sie ist trotzdem mit Mann und Sohn an Bord, zu tun ist immer etwas. Nächstes Wochenende sei Kutterregatta in Fedderwardersiel, bis dahin habe sich das Wetter hoffentlich gebessert. Ob wir nicht auch kommen wollen? Verlockend klingt das schon: Auf einem echten Krabbenkutter mitfahren und anschließend den Profis beim Wett-Pulen der kleinen Garnelen zuschauen. Oder aus Jux vielleicht sogar selbst teilnehmen. Schließlich habe ich schon mit drei Jahren meinen ersten Granat gepult – so erinnern es zumindest meine Eltern.

Oft saßen wir um den Küchentisch meiner Großeltern, ein riesiger Berg Krabben auf Zeitungspapier in der Mitte, dessen rosarotes Fleisch wir mit geschickten Fingern und tausendfach geübten Dreh-Zieh-Bewegungen von ihren hauchdünnen Panzern befreiten. Meist konnte ich nicht widerstehen und steckte mir den winzigen Happen direkt in den Mund – die Dinger waren noch kleiner als meine Kinderfinger. Noch besser schmeckt der Granat allerdings, wenn man ihn auf eine Scheibe gebuttertes Graubrot häuft und dann in diesen saftigen Berg hinein beißt.

Wir haben Glück: Eines der Büdchen am Kutterhafen hat geöffnet und verkauft neben Fisch auch Granat. Der stammt allerdings nicht von den Kuttern, die 20 Meter weiter ankern, sondern aus Cuxhafen. Und das liegt nicht am Wetter, sondern an einer Genehmigung, die dafür fehle, erzählt uns der Verkäufer. Es ist nur eine von vielen Absurditäten rund um die Nordseekrabbenindustrie. Dass der Großteil der Garnelen, die man bei uns abgepackt im Supermarkt bekommt, in Marokko gepult wird, hat sich inzwischen ja bis weit jenseits der Küsten herumgesprochen. Nachhaltig ist das, was man an der Nordsee „direkt vom Kutter“ bekommt, trotzdem nicht. Denn es gebe zwar die Vorschrift, dass zu kleine Tiere nicht verkauft werden dürfen, erzählt uns der Fischhändler, aber der Fang wird erst nach dem Abkochen gesiebt. Die Jungtiere, die zurück ins Meer gekippt werden, wachsen also nicht mehr weiter und zeugen Nachkommen, sondern sind bestenfalls noch Fischfutter.

Wir kaufen trotzdem ein Pfund. Ich lebe jetzt schon so lange nicht mehr an der Küste, dass ich gerade deshalb die Tradition fortsetzen will: Wenigstens ein Mal soll meine Tochter mit mir Krabben pulen.

Und dann sitzen wir um unseren wackeligen Schwenktisch in der Bulli-Kombüse, der kleine grau-rosa Haufen in unserer Mitte und es geht los. Meine Finger scheinen ein gutes Gedächtnis zu haben, nur hin und wieder reißt der weiche Krabbenpanzer an der falschen Stelle und ich muss ihn und die zehn Beinpaare, die unten dran hängen, mühsam herunterfriemeln. Auch unsere kleine Feinschmeckerin hat viel Spaß mit den lustig aussehenden glubschäugigen Tierchen und kaut die Schalen, die sie nicht erwischt hat, kurzerhand mit. Zumindest bis sie merkt, wie viel besser es von meinem gepulten Haufen schmeckt. Nur der Co-Jäger flucht vor sich hin, während er versucht, seine Hände durch konzentriertes Starren zu hypnotisieren.

Rohmilch von der Milchtankstelle

„Halt! Bieg da vorne links ab!“, rufe ich dem Co-Jäger zu, als er unseren Bulli von Wremen wieder ins Landesinnere steuert. Solche Kommandos vom Beifahrersitz ist er zum Glück gewohnt, seit wir auf der Jagd nach typischen Spezialitäten ein halbes Jahr lang kreuz und quer durch Neuseeland gefahren sind. Ohne groß Fragen zu stellen, setzt er den Blinker und hält kurz darauf vor einem blauen Häuschen. „Milchtankstelle“ steht daran, genau wie auf dem Schild, das ich am Straßenrand erspäht hatte.

Was uns auf den ersten Blick an eine honesty box erinnerte, wie wir sie ebenfalls am anderen Ende der Welt kennen und lieben gelernt haben, entpuppt sich, nachdem wir eingetreten sind, als high-tech Selbstbedienungsladen des benachbarten Bauernhofes. Hinter Edelstahlluken warten Eier, Kartoffeln und Milch auf unseren Geldeinwurf. Wir können unser Glück kaum fassen: Rohmilch! Also Milch, die nicht homogenisiert wurde (sprich: das Fett darin in winzige Bestandteile zersiebt und gleichmäßig mit dem wässrigen Anteil vermischt) und auch nicht pasteurisiert (durch Erhitzen haltbar gemacht) oder gar ultrahocherhitzt, sondern frisch aus einem Euter, der zu einer nebenan grasenden Kuh gehört.

Für die Generation meiner Großeltern war es noch völlig normal, Rohmilch zu trinken. Heute verzichtet man aus Angst vor Keimen lieber auf Geschmack und Vitamine. Ein großes Schild am „Muhkomat“ weist uns auf die Empfehlung des Gesetzgebers hin, die Milch vor dem Verzehr auf über 70 Grad zu erhitzen. Vielleicht gibt es deshalb auch keine Pfandgefäße, die ja potenziell von anderen Besuchern verschmutzt worden sein könnten? Wir stellen also eine schnell leer getrunkene Sprudelflasche unter den Hahn, dann werfen wir Geld ein, drücken den Knopf, warten ungeduldig, bis die Flasche vollgelaufen ist, und probieren den ersten Schluck. Eiskalt ist die Milch. Und irgendwie … weniger cremig, weniger aromatisch als wir erwartet hatten. Vielleicht liegt es daran, dass wir erst vor ein paar Tagen noch warme, schäumende Milch frisch aus dem Euter probieren durften – von einer Ziege im Erzgebirge.

Freilaufende Salami

Im Nachbarort liegt der Hof Icken, der zum Netzwerk kulinarischer Bauernhöfe gehört, welches 2014 von der niedersächsischen Landwirtschaftskammer initiiert wurde. Außerdem bieten sie Landvergnügen-Campern wie uns einen Stellplatz für die Nacht. Kaum sind wir angekommen, öffnet der Himmel leider wieder seine Schleusen. In Gummistiefeln und Regenzeug stapfen wir quer über den weitläufigen Hof durch große Pfützen zu einem Häuschen vorne an der Hauptstraße, das den Laden beherbergt und in den Sommermonaten auch ein Café. „Unsere Schweine werden im Freiland geboren und bleiben auch ihr ganzes Leben lang draußen“, erzählt mir Wiebke Icken, als ich luftgetrockenete Salami und geräucherten Lachschinken fürs Abendessen kaufe, und erklärt mir auch gleich den Weg zu der Wiese, auf der wir die Muttersauen und Mastferkel beim Wühlen und Suhlen beobachten können, wenn wir denn möchten.

Für heute haben wir uns aber genug durchpusten lassen. So schnell es eben geht, wenn man ein Kind an der Hand hat, das unbedingt die Hasen füttern und auf den Traktor klettern möchte, laufen wir zurück zu unserem Bus. Drinnen ist es endlich wieder trocken und gemütlich, und während der Wind an unserem rollenden Zuhause rüttelt und der Regen aufs Kunststoffdach prasselt, hobeln wir uns Scheibe um Scheibe von unserer „freilaufenden Salami“ aufs Brot und genießen einen Lachsschinken, der so zart ist, dass er fast auf der Zunge zergeht, und dabei ein unglaublich vielfältiges Aroma entfaltet. Spätestens wenn man Wurst wie diese isst, begreift man: „bio“ ist nicht genug. Erst wenn man Tiere wirklich artgerecht hält (was schon aus anderen Gründen selbstverständlich sein sollte), stimmt auch der Geschmack.

Ein unverhofftes Ende

Am nächsten Tag fahren wir gerade durch eine 30er-Zone (zum Glück nicht Landstraße oder gar Autobahn), als unser Bus ein dumpfes, reißendes Geräusch von sich gibt. Die Antriebswelle ist gerissen, diagnostiziert der Co-Jäger (womit er Recht behält). Leider sind wir über 500 Kilometer von unseren Kiezschraubern entfernt, die den Bulli und seine Konstitution ziemlich gut kennen. Und so bleibt uns nichts anderes übrig, als unser rollendes Zuhause einer nahe gelegenen Werkstatt anzuvertrauen und mit dem Zug nach Hause zu fahren. Das fühlt sich nicht nur deshalb schrecklich an, weil wir all die Leckereien in der Vorratskiste zurücklassen müssen, die wir auf unserer kulinarischen Deutschlandexpedition (Teil 1 und 2 hier) gesammelt haben.

Zwei Wochen später können wir endlich aufatmen. Und fahren direkt wieder los.

Hof Icken, Hörn 4, 27607 Geestland, Öffnungszeiten des Hofladens: Di und Fr 9-12 und 14-18 Uhr, Sa 10-12 Uhr. Nach den Schlachttagen (Termine hier) gibt es Dienstags frisches Fleisch und Freitags frische Wurst.

Die Milchtankstelle gehört zum Schlepis Milchhof, Hof am Eckeberg, 27607 Langen-Sievern. An der Landstraße Richtung Wremen (Wremer Specken) steht ein Hinweisschild.

Der Wremer Kutterhafen ist ab Ortseingang Wremen ausgeschildert.

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