Rezension: „Die kulinarischen Anwendungsmöglichkeiten einer Kanonenkugel“


„1819: Der angesehene Chefkoch Owen Wedgwood wurde von der berüchtigten Piratin Mad Hannah Mabbot entführt. Seine einzige Überlebenschance: Er muss ihr jeden Sonntag eine exquisite Mahlzeit servieren, solange wird sie ihn verschonen. Keine leichte Aufgabe, denn auf dem Piratenschiff sind kaum geeignete Zutaten zu beschaffen.“

Welch großartige Idee für einen Abenteuerroman! Auf 384 Seiten segelt der unfreiwillige Passagier über alle Weltmeere, stets auf der verzweifelten Jagd nach dem verlorenen, aber so dringend benötigten, Schmatz. Sollte sein Mahl die Piratin nicht zufrieden stellen, geht er über Bord – so lauten die Konditionen seines neuen Arbeitsverhältnisses.

„Eine Kathedrale aus Fadennudeln zu erbauen, wäre realistischer“, klagt Wedgwood vor seinem ersten Einsatz. In der Speisekammer findet er neben reichlich Rattendreck zwar Grundnahrungsmittel, „aber geeignete Zutaten für die gehobene Küche?“ Entsetzt notiert er in sein Bordtagebuch: „Butter, Sahne, Pilze, Obst, Eis, Kräuter, Gewürze, frisches Fleisch, Eier, Konserven, knackiges Gemüse, Zucker, Speck, Würste, Sherry – nichts davon stand mir zur Verfügung. Keine Kräuter. Nicht einmal eine Karotte. Der Herr möge mir beistehen.“ In der Kombüse befindet sich statt eines Herdes, „nur ein Stapel Ziegel und (er) zog nicht richtig“.

Schon auf den ersten Seiten hat mich das Buch mitgerissen in ein Abenteuer, das vor 200 Jahren spielt. In dem Seeräuber mit frechem Mundwerk und noch lockerer sitzenden Fäusten und Säbeln einen finsteren Schurken sowie das nächste reich beladene Schiff einer britischen Tee-Handelsgesellschaft jagen. Autor Eli Brown schreibt auch für renommierte Literaturmagazine der USA und sein erster auf Deutsch erschienener Roman ist nicht nur spannend, sondern auch sprachlich geschliffen erzählt.

So überrascht sein  Protagonist auch immer wieder mit Ausflügen ins Philosophische: „Ich stelle mir den Mund als Tempel vor, wie etwas, das Adam und Eva in einer Höhle errichtet haben könnten. Der Tempel ist zu zwei Seiten hin offen. Auf der einen Seite befindet sich die bekannte Welt, von der Sonne erleuchtet, wie Natur und Mensch sie erschaffen haben. Auf der anderen Seite herrschen Dunkelheit und Veränderung. Zwischen diesen Polen aus Geburt und Tod, Klarheit und Wahnsinn, liegt der Geschmackt.“ Ser hübsch auch sein, beinahe schicksalsergebener, Kommentar als er sich wider Willen verliebt: „Einmal gebacken, kann das Brot nicht mehr zu Mehl werden.“

Und trotzdem: Solche Abenteuerromane gibt es ja eigentlich schon zur Genüge. Was dieses Buch für mich allerdings zum Schmankerl macht, ist die Tatsache, dass es den Koch und seine zu allem entschlossene, pragmatische Kreativität in den Mittelpunkt stellt. Was die Besatzung isst, entspricht etwa dem, was man an Verköstigung auf einem Segelschiff Anfang des 19. Jahrhunderts erwartet: Schiffszwieback, mit Schweinefett und Zwiebeln gekochter Haferschleim und in Schießpulver geräuchertes, zähes Fleisch mit dem euphemistischen Namen „Mary Sweet“, dazu Brackwasser, das mit Alkohol magenverträglich und mit ein paar Gewürzen halbwegs trinkbar gemacht wurde.

Wedgwood schafft es jedoch Woche um Woche, ein Menü zu zaubern und das steckt nicht nur voller cleverer Einfälle und macht regelrecht Appetit (zum Beispiel Hering-Paté mit Rosmarin auf Walnussbrot / Tee-geräucherte Aal-Ravioli sautiert mit karamellisiertem Knoblauch und Lorbeerblatt / in Rum pochierte Feigen gefüllt mit Pilfered-Blue-Käse und mit Honig beträufelt), es ist auch mit sehr viel Humor erzählt. Etwa wie er seinen Sauerteig einer Amme gleich am Körper trägt und mangels sauberem Trinkwasser liebevoll mit Kokosmilch füttert, damit er das rauhe Seeklima überlebt. „Seit Abel das erste Mehl zwischen zwei Flusssteinen mahlte, wurde kein Teig mehr so mühselig hergestellt“, notiert er lakonisch.

Abzüge gibt es von mir nur für den Titel des Buches: Ich finde ihn sperrig und er hätte mich fast vom Lesen abgehalten. Was es damit auf sich hat, erfährt man in einem der letzten Kapitel, das den Titel als Überschrift trägt. Zu diesem Zeitpunkt hat man sich an die leicht gestelzte Sprache gewöhnt, die der Autor seinem Protagonisten in den Mund legt – sie passt zur Epoche, in der der Roman spielt. In besagtem Kapitel dient die Kanonenkugel dem Koch einmal als Nudelholz, ein andermal mahlt er damit Gewürze in einer Kokosnussschale. Clever.

Überraschend ist auch das Ende des Romans. Eine Reise verändert einen Menschen – selbst dann, wenn sie unter derart widrigen Umständen stattfindet. Die geldgierigen Piraten, die blutrünstige und skrupellose Kapitänin, der hochwohlgeborene ehemalige Arbeitgeber, die britische Tee-Handelsgesellschaft, die rattenverseuchte Vorratskammer … am Ende ist nichts wie es scheint.

Eli Brown: „Die kulinarischen Anwendungsmöglichkeiten einer Kanonenkugel“[affiliate Link*]. Erschienen als Hardcover bei Droemer, 384 Seiten, 19,99 Euro (ISBN: 978-3-426-19950-3) und als EBook, 17,99 Euro (ISBN: 978-3-426-42313-4).

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